ein riss im herzen eines sechsjährigen jungen ist etwas, das in unserer welt kaum jemand bemerkt. zu viele kinder sind sechs. zu viele worte fehlen. die meisten wissen gar nicht, wie man so etwas überhaupt sagt. wie soll man gebrochensein erklären, wenn man kaum begriffe dafür kennt?
doch irgendwo gibt es einen anderen ort. einen, an dem alle gebrochenen, zerrissenen, verlorenen, angeknacksten und verbitterten herzen aufgezeichnet werden. dort, ganz leise, wird so etwas bemerkt. und als man das herz dieses sechsjährigen jungen auf eine waagschale legte, zusammen mit all den anderen beschädigten herzen der welt, da zeigte sie plötzlich zu viel an. ein herz zu viel. eines, das dort noch nicht hätte liegen sollen.
in jener nacht blieb der schnee aus. und am nächsten morgen hatte der himmel die farbe von nassem asphalt. glanzlos, stumpf. so wie die augen der menschen um mich herum.
ich weiß nicht, warum ich züge so sehr mag. vielleicht, weil sie eine verbindung sind. eine verbindung von stadt zu stadt, von stadt zu land, und so weiter. eine verbindung zu orten, die man nicht kennt, die geheimnisvoll und völlig langweilig sein können. aber es ist ein schönes gefühl zu wissen, dass es züge gibt. wenn ich wollen würde, könnte ich einfach einsteigen und wegfahren. es gäbe unzählig viele möglichkeiten, wohin. irgendwie bedeuten züge auch freiheit für mich. so sitze ich oft stundenlang auf meinem kleinen balkon, und schaue auf die gleise, die unmittelbar davor liegen. und wenn züge vorbeikommen, schaue ich mir die leute an. und ich frage mich, wohin sie wohl gerade fahren. wie es ihnen wohl geht. die alte dame mit dem lächeln auf dem gesicht, die gerade auf dem weg ist, zum 6. geburtstag ihrer enkelin zu fahren. in ihrer handtasche verbirgt sich die grußkarte, und in dem großen korb neben ihr wartet ein geschenk ungeduldig darauf, von seiner lästigen zweiten haut befreit zu werden. sie hat einen weiten weg zu ihrem sohn und ihrer enkelin, und sie ist aufgeregt. denn so oft sehen sie sich nicht. der mann, der erschöpft sein gesicht an die scheibe lehnt. bemüht, dabei nicht einzuschlafen. er hat eine lange und anstrengende nachtschicht hinter sich, mit reichlich überstunden, die er für eine lächerliche summe ausgezahlt bekommt. aber er schaut nicht verärgert darüber aus. er scheint froh zu sein. velleicht bei dem gedanken, bald endlich ins bett zu fallen. oder bei dem gedanken, seiner freundin sagen zu können, dass er schon wieder ein paar euros mehr für den monat verdient hat. vielleicht spart er auch das geld, um endlich seinen größten traum von einem haus am strand verwirklichen zu können. obwohl er weiß, dass er es wohl nie schaffen wird, ist die hoffnung noch in reichweite. weil er vielleicht weiß, dass träume und hoffnung einen manchmal retten kann im grau trüben alltag. dass mag ich so an den zügen. selbst wenn alles andere müde ist, der sonnenaufgang träge und die straßen erschöpft, die züge fahren stetig und zuverlässig durch die welt. mit leuten, die vielleicht traurig, froh, unendlich glücklich oder erschüttert sind. dass interessiert sie auch gar nicht. weder die zeit, noch das wetter, noch sonst irgendwas. sie fahren einfach. zuverlässig, tag und nacht. und ich schaue ihnen dabei zu, bis ich vor müdigkeit einschlafe.
da ist eine drossel in meinem herzen, die nach draußen will, aber ich halte sie fest. ich bin zu schlau, ich hole sie nur nachts raus – manchmal, wenn die welt schläft und die stille lauter ist als der schmerz. dann sage ich ihr: „ich weiß, dass du hier bist. du bist nicht allein.“ doch ich lege sie zurück, verstecke sie tief in der dunkelheit. sie singt leise, ein klagendes lied, das niemand hören will. ich habe sie nicht sterben lassen, aber ich habe sie auch nicht leben lassen. wir teilen diesen geheimen pakt. ein stilles versprechen zwischen verlust und hoffnung, zwischen zerbrochen und weitergehen. und manchmal fühlt sich das genug an, um einen mann weinen zu lassen, doch ich weine nicht. weinst du?
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